1. Augustrede 2024

«Wir wollen sein ein einzig Volk, in keiner Not uns trennen und Gefahr.»

Die Volksstimme war in Anwil dabei und hat einen Bericht veröffentlicht.
(Danke Beat Schaffner (Anwil) und Beat Eglin (Liestal) für die tollen Bilder)

«Wir wollen sein ein einzig Volk, in keiner Not uns trennen und Gefahr.»

Das war er, der erste Satz des Schwurs auf dem Rütli. Jener Satz, der unser Land begründet haben soll, jener Satz, welcher seither ganz sicher in vielen Erstaugustreden zitiert wurde. (…) Ja, die drei wackeren Männer auf dem Rütli bringen mit diesem Schwur ihre Entscheidung zum Ausdruck, in Zukunft miteinander unterwegs sein zu wollen, bringen zum Ausdruck, dass sie sich füreinander engagieren wollen. (…) Denn Gemeinschaft ist auch eine Entscheidung, ein bewusstes Ja für ein Gegenüber, ein bewusstes Ja für ein Miteinander. Gemeinschaft ist die Bereitschaft, das eigene Leben für andere zu öffnen, selbst auf etwas zu verzichten und jemand anderem einen Anteil davon zu geben. (…) Und ich bin der Überzeugung bin, dass unser Land, das was die Schweiz ausmacht, genau auf der Stärke von Gemeinschaften begründet liegt. (…)

Unser Land wird nicht durch die Kraft einer gemeinsamen Sprache, Ethnie oder Religion zusammengehalten: Wir haben vier Landessprachen, den Röstigraben, wir haben die Unterschiede zwischen Stadt und Land, wir sind 26 Kantone und über 2’100 Gemeinden. Ja, wir haben viele Differenzen, Unterschiede… aber wir alle sind letztlich Teil dieses Landes – und dankbar, hier leben zu dürfen. In einem Land, das von Anfang an die Überzeugung hatte, dass Vielfalt, Unterschiedlichkeit, Andersartigkeit, Teil von der eigenen Kultur werden müssen. Eine Haltung, welche auch in unserer ersten Bundesverfassung als Prinzip beschrieben wird, wenn es heisst: «Die Kantone sind souverän.» (…)

Ohne Zweifel: Der Föderalismus ist manchmal langsamer, als ein zentralistisches System. Aber, das Zulassen und Aushalten von Verschiedenartigkeit, ermöglicht und bedingt eben auch, die Entscheidungsmacht ganz nahe bei den Menschen auf der Stufe der Kantone und den Gemeinden zu belassen – und ja, das ist ohne Zweifel ein zentraler Teil der Erfolgsgeschichte unseres Landes! (…)

(…) Was aber hat «Wir wollen sein ein einzig Volk, in keiner Not uns trennen und Gefahr.» für eine zukünftige Bedeutung in unserem Land?

  • Wie gehen wir damit um, dass es offenbar notwendig ist, die Politik immer härter, schriller und lauter zu gestalten damit man gehört wird, dass es immer mehr wichtig scheint, sich möglichst pointiert vom Gegenüber abzugrenzen?Wie gehen wir damit um, dass die Kompromissfähigkeit, also der Wunsch, Unterschiedlichkeit zu respektieren und trotzdem gemeinsam eine Lösung zu entwickeln an Bedeutung verliert?
  • Wie gehen wir mit der Individualisierung um? Also mit der Entwicklung, dass der Einzelne sich immer weniger als andersartigen Teil von etwas Gemeinsamem versteht, sondern sich immer mehr nur noch unter Gleichgesinnten und Gleichdenkenden bewegt?
  • Wie gehen wir damit um, dass unsere Debattenkultur ersetzt wird vom lauten Schreien oder dem kompletten Schweigen?
  • Wie soll dieses «wir sind ein einzig Volk» in Zukunft möglich bleiben, wenn durch all dies unsere gesellschaftlichen Strukturen, unser Zusammenhalt geschwächt werden? (…)

Und ja, was für die politische Schweiz gilt, stellt sich auch als Frage für unsere gesellschaftliche Entwicklung von Gemeinschaften:

  • Wohin führen Vereinzelung und Vereinsamung?
  • Wie schaffen wir es wieder, die eigene Meinung zu äussern, ohne vom Gegenüber schubladisiert, stigmatisiert und abgeschrieben zu werden.
  • Wie gelingt es uns, die Auseinandersetzung mutig und offen anzugehen, eine tolerante Gesellschaft zu bleiben und wieder neu zu werden?
  • Ja, wie schaffen wir es, die freie Meinungsäusserung, den Diskurs, als zentrale Bausteine für unsere gesellschaftliche Entwicklung zu behalten?
  • Wie gelingt es uns, Respekt und Wertschätzung als Grundlage unseres Denken und Handelns zu stärken? (…)

Es braucht Mut! Mut für Gemeinschaft. Mut, sich aus dem Kreis des Bekannten hinauszubewegen. (…) Die Erfahrung zeigt doch, dass wenn wir den ganzen Lärm, den unsere Politik manchmal produziert, zur Seite schieben, wenn wir bereit sind, auf schrille Töne zu verzichten, wir weit über die eigene politischen Grenzen hinaus feststellen, dass unser Gegenüber genau die gleichen Themen beschäftigt, die gleichen Sorgen hat und wir uns darauf einigen können, dass es für diese Themen eine Lösung braucht. (…)

Darum bin ich der Überzeugung: Nur wenn es uns gelingt, uns dar­über zu ver­stän­di­gen, was die ganz grossen Themen sind, wird es möglich, dass die verschiedenen politischen Richtungen ihre Ideen, wie man diese Problem lösen kann, in einer konstruktiven Auseinandersetzung debattieren können. Es braucht daher als erstes die unideologische Konsensfindung über die grossen Herausforderungen. Damit schaffen wir die Grundlage für die nachfolgend gemeinsame Erarbeitung der bes­ten Ant­wor­ten auf die wirklichen Pro­ble­me und verhindern damit das sinnlose Bewirtschaften von Halb­wahr­hei­ten und destruktive Behauptungen ohne Beitrag zur Lösungsfindung. (…)

«Wir wollen sein ein einzig Volk, in keiner Not uns trennen und Gefahr.»

Liebe Gäste. Dieser Schwur hat für mich mehr Aktualität denn je kriegt. Nein, die drei Talschaften waren nicht langjährige Freunde, nein sie hatten nicht in allen Themen gleiche Interessen und schon gar nicht gleiche Meinungen. Aber sie haben sich dazu entschieden, die Differenzen soweit auszudiskutieren, dass genügend gemeinsame Grundlage geschaffen werden konnte, damit daraus «ein einzig Volk» werden konnte. Und sie haben erkannt, dass Not und Gefahr eine reale Bedrohung sind, die nur gemeinsam angegangen werden konnten.

Und ja, auch heute steht unsere Welt, unser Land, unser Kanton vor grossen Herausforderungen, Gefahren und auch Nöte kennt unser Land trotz allem Reichtum…

Wir brauchen einen neuen Willen, das Gemeinsame zusammenzuhalten. Wir brauchen die Bereitschaft für Diskussion, Auseinandersetzung, vielleicht auch mal Streit. Es braucht aber vor allem den Respekt, und die Wertschätzung des Gegenübers. (…) So wird es möglich sein, an den gleichen Herausforderungen mit unterschiedlichen Meinungen, Haltungen gemeinsam die besten Antworten für unsere Gesellschaft zu entwickeln. (…)

© 2024 Thomi Jourdan